Warum Bremer Ärzte Kunstkurse auf Rezept verschreiben

Warum Bremer Ärzte Rezepte für Kunstkurse ausstellen

Bild: Radio Bremen

Poesie gegen Depression: Das internationale Projekt “Kunst auf Rezept” ermöglicht psychisch Belasteten, sich künstlerisch an der Bremer Volkshochschule auszuleben.

Der Raum ist schlicht: Teppichboden, Schultische, eine weiße Tafel – typisch Volkshochschule (VHS). Acht Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind im Kurs "Poesie des Alltags" dabei, aufgeteilt in vier Gruppen. Sie diskutieren, schreiben und philosophieren. Wie würde ein Teebecher mit einem Handy sprechen? Was würde ein Schlüssel zu einer Kaffeetasse sagen?

Dieser Kurs ist Teil des Projekts "Kunst auf Rezept". Es ermöglicht psychisch belasteten Personen, auf Rezept kostenlos an Kunst- oder Kulturkursen an der Volkshochschule teilzunehmen. In Bremen stellen mittlerweile 63 Einrichtungen solche Überweisungen aus.

Praktische Hilfe bei Depressionen

Mehrere Menschen sitzen an Staffeleien, die im Halbkreis aufgestellt sind, und malen.
Die Kurse sind offen für alle Menschen – nicht nur für diejenigen, die sie verschrieben bekommen haben. Bild: Radio Bremen

Die aktuelle Aufgabe im Kurs lautet, einen Gegenstand sprechen zu lassen. So sagt der Stift: "Täglich tanze ich auf Papier. Bringe Denken und Sagen zu Schrift und Kunst. Aus Tinte, für die Ewigkeit." Dann geht er in einen Dialog mit dem Nachbargegenstand. Keine Gruppe kennt vorher die Gegenstände der anderen.

Nacheinander lesen sie die Dialoge vor. Kurz, prägnant. Manche bestehen nur aus einzelnen Worten. Die Stirn ist gerunzelt, die Augen halb verschlossen, die Teilnehmenden hören konzentriert zu. Sie lassen die Worte auf sich wirken. Die meisten Gegenstände werden nachher erraten.

Per Rezept im Kurs gelandet

Eine der Teilnehmerinnen ist Steffi. Die 27-Jährige ist über ein Rezept ihrer Therapeutin in den Kurs gekommen. "Der Kurs gefällt mir sehr gut, es macht wirklich viel Spaß. Die Gruppe ist ein total sicherer Ort." Donka, die Leiterin, mache das ganz fantastisch.

Die Gruppe ist ein total sicherer Ort.

Steffi, 27 Jahre alt

Steffi leidet an Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ihren Nachnamen möchte sie für diesen Artikel nicht nennen, aber er ist der Redaktion bekannt. Nach jahrelanger Therapie fragt sie sich, wie es weitergeht. Sie findet, der Kurs schaffe einen guten Übergang und ermögliche, sich wieder mehr als Teil der Gesellschaft zu fühlen. "Der Austausch mit den Leuten hier ist total schön. Es ist auch toll, dass es mal nicht um meine psychische Erkrankung geht", sagt sie. Es gehe nur um Kreativität.

Musik und Songtexte interessieren sie schon lange, auch schon vor dem Kurs hat sie kleine Gedichte geschrieben. Sie erklärt, der Kurs biete ihr einen Zugang zur Dichtkunst: "Man lernt hier das Handwerk der Poesie und ich lerne mich besser und auf anderen Wegen auszudrücken. Das hilft mir."

Positiven Auswirkungen auf die Psyche

Das Projekt wird von der Volkshochschule Bremen unter der Projektleitung von Hannah Goebel in Zusammenarbeit mit der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz sowie dem Senator für Kultur geführt. Goebel unterstreicht die Besonderheit des Programms: "Das Innovative an dem Projekt ist die Vernetzung des Kulturbereichs mit dem Gesundheitsbereich", sagt sie. Das seien Bereiche, die bisher noch nicht so viel miteinander zu tun hatten. "Ich glaube, in dieser Schnittstelle liegt viel Potenzial."

Weltweit nehmen die psychischen Belastungen zu. Die positiven Auswirkungen von Kunst auf die Gesundheit sind bereits wissenschaftlich belegt. "Dabei spielt dann nicht nur das künstlerische Schaffen an sich eine Rolle, sondern auch der soziale Kontakt, der mit den Kursen einhergeht", sagt die Projektleiterin.

Im Gegensatz zu anderen Ländern können Interessierte in Bremen zu bestehenden Kursen dazustoßen. Wer über Rezept in den Workshop gekommen ist, wird nicht offengelegt. Der Kurskatalog ist trotzdem etwas kleiner, da nur Angebote ausgewählt werden können, die sich auf den Prozess des Erschaffens und den Austausch miteinander fokussieren.

Einstieg über ein Beratungsgespräch

Beim ersten Kontakt mit der VHS steht zunächst ein Beratungsgespräch an. Neben den Kursen gibt es auch eine Gruppenbegleitung, in der sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen untereinander austauschen können.

Ein Rezeptbogen in Nahaufnahme, er wird mit einem Kugelschreiber ausgefüllt
Wenn Bremer Ärzte und Psychologen einen Kunstkurs für hilfreich halten, stellen sie ein Rezept aus. Bild: Radio Bremen

Die zweite Pilotphase war mit etwa 20 Plätzen voll belegt. Für die dritte und vorerst letzte Phase kann man sich noch anmelden. Zwar gebe es bereits eine Warteliste, weil die Nachfrage sehr hoch sei, jedoch "hoffen wir, dass wir weitermachen können und das Angebot aufrechterhalten können, auch nach der dritten Pilotphase", so Goebel. "Wir sind gerade dabei, eine Finanzierung ab 2025 zu finden."

Wie der Kurs Betroffenen hilft

Auch Sven Grewe kam über ein Rezept in den Kurs. Das Schreiben sei für ihn ein Kanal, um seine Emotionen auszudrücken, sagt der 42-Jährige. "Um zu reflektieren, wie ich mich fühle und was ich denke." Nachdem er letztes Jahr einen Nervenzusammenbruch hatte und in Therapie war, fand er wieder Zugang zum Schreiben.

Meine Kreativität zu entdecken und auszubilden, ist für mich ein Weg, um mit meinen dunklen Seiten umzugehen.

Sven Grewe, 42 Jahre alt

Der soziale Austausch tut ihm ebenfalls gut: "Wenn ich allein schreibe, geht es viel um mein Inneres", sagt Grewe. "Bekommt es eine soziale Komponente, sind nicht nur meine Gedanken und Emotionen im Spiel. Ich lese meinen Text vor, habe meine Gedanken und Emotionen im Kopf und jemand interpretiert es völlig anders." Es sei toll, das so vielfältig zu erleben. Es habe sich schon eine Gemeinschaft geformt, man kenne sich ein Stück weit. "Das ist ein Antrieb und Motivation, um kreativ zu sein."

Mehr als nur ein Kunstkurs

Im Kurs wird aus den Worten des Stifts ein Bild. Auch der Text nimmt die Form eines Stifts an. Alle bewegen sich im Kreis und betrachten die kleinen Kunstwerke: ein Fahrrad, ein Handy, ein Schlüssel. Nun braucht keiner mehr zu lesen. Jedes Bild löst unterschiedliche Reaktionen aus: Schmunzeln, Lachen, Stirnrunzeln.

Der Raum ist erfüllt mit Zufriedenheit, aber auch etwas Wehmut. Es war das letzte Treffen des Kurses. Kursleiterin Donka Dimova wedelt mit der E-Mail-Kontaktliste und fragt, wer Interesse hat, sich weiterhin zu vernetzen. "Ja, privat treffen wäre wirklich schön", hallt es durch den Raum.

Zum Abschluss lädt Dimova alle ein, noch in eine kleine Bar um die Ecke zu gehen, um sich besser kennenzulernen und den Abend ausklingen zu lassen. Die Teilnehmer beginnen, ihre Sachen zu packen – die Gespräche drehen sich schon um mögliche nächste Treffen.

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Bild: Radio Bremen

Autor/Autorin

  • Autor/in
    Antonia Hirschmann

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 13. Juni 2024, 19:30 Uhr