Kirchenasyl in Bremen: "Eine gewisse Anmaßung"
Nach einem gescheiterten Abschiebeversuch eines Somaliers ist der Streit ums Kirchenasyl hochgekocht. Migrationsforscher Stefan Luft kritisiert die Praxis der Kirchen.
Herr Luft, wenn es um die EU-Einwanderung geht, werden oft die Dublin-Regeln genannt. Aus Ihrer Sicht als Migrationsforscher: War es schlau, einen solchen Mechanismus einzuführen?
Das Dublin-System ist konzipiert hinsichtlich der Zuständigkeit von Mitgliedsstaaten der EU für Asylverfahren, nicht für Einwanderung. Als das System 1990 ins Leben gerufen wurde, hatten alle Mitgliedsstaaten Außengrenzen – das war ja noch vor der Ost- und Süderweiterung. Insofern war es damals eine nachvollziehbare Entscheidung zu sagen, dass die Staaten mit Außengrenzen verantwortlich sind für den Zustrom von irregulären Migranten oder von Asylbewerbern – und die sollen dann auch die Verantwortung tragen.
Mit Blick auf die Zahl der Rückführungen nach der Dublin-Regel entsteht der Eindruck: Das System scheint nicht zu funktionieren.
Das Dublin-System ist weitgehend dysfunktional, die Umverteilungswirkung ist sehr gering. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass das Dublin-System ein Schönwettersystem ist, das funktioniert nur bei geringen Zahlen. Beim Massenzustrom, wie wir ihn seit 2015/2016 haben, funktioniert das nicht mehr. Das bedeutet, dass die für Verfahren zuständigen Länder – also jene Staaten mit Außengrenzen wie Griechenland, Spanien, Italien oder etwa Polen – sich dem System verweigern. Und es versuchen eben auch viele andere Akteure, den Vollzug dieses Systems zu hintertreiben – zum Beispiel Kirchengemeinden in Bremen.
Wie hintertreiben die Bremer Kirchengemeinden aus Ihrer Sicht das Verfahren?
Indem sie Personen beherbergen und der Polizei oder den entsprechenden Ausländerbehörden die Möglichkeit verweigern, sie auch tatsächlich in das zuständige Land zu überstellen.
Könnte man nicht argumentieren: Gut, dass sich das Ganze noch eine Instanz ansieht, damit man in den Fällen ordentlich vorgeht?
Der Punkt ist, dass Deutschland der Mitgliedsstaat innerhalb der EU ist, der das ausgefeilteste Asylrecht aller EU-Mitgliedsstaaten hat. Wir haben ein hyperkomplexes Asylrecht, dass kaum noch einer durchblickt. Und wir haben zig Optionen in den Verfahren, die Dinge zu prüfen. Das heißt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prüft, dann prüft die Ausländerbehörde, dann prüfen möglicherweise Verwaltungsgerichte. Man kann ja sogar seit 2013, also seitdem es Dublin III gibt, gegen die Überstellung beim Verwaltungsgericht klagen. Also es bedarf keiner zusätzlichen Instanz – der es noch dazu an jeglicher Kompetenz fehlt –, die eine weitere Überprüfung durchführen sollte.
Kann man aus Ihrer Sicht also sagen, dass sich die Kirchen da zu viel heraus nehmen?
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist ein Kompetenzzentrum, wenn nicht das Kompetenzzentrum für Migration und Asyl in Deutschland. Auch die Asylkammern der Verwaltungsgerichte haben sich enorme Fachkenntnis angeeignet, können zurückgreifen auf entsprechende Studien und Untersuchungen. Da ist es schon fragwürdig, wenn sich in einer beliebigen Kirchengemeinde eine Gruppe von Menschen zusammentut, die sagen: "Wir machen jetzt ein eigenes Verfahren und prüfen das auch." Die haben keinerlei Kompetenz. Es ist eine gewisse Anmaßung zu meinen, man könnte jetzt privat ein Parallelverfahren durchführen.
Die Kirchen haben sich auf unsere Anfrage geäußert: Sie nehmen Menschen auf, die sagen, sie hätten zum Beispiel in Spanien keine Unterstützung bekommen, seien auf der Straße verelendet. Sie wollen nicht zurück in ihre Ankunftsländer, weil sie ihrer Aussage nach weder Obdach noch Essen bekommen.
Das war genau der Grundgedanke des Dublin-Verfahrens: Dass die Staatengemeinschaft entscheidet, wo die Verfahren durchgeführt werden – nämlich in den Erstzugangsländern – und die Asylbewerber sich das nicht frei aussuchen können. Es bedarf innerhalb der Europäischen Union eines gewissen grundsätzlichen Vertrauens, dass die Mitgliedstaaten in der Lage sind, nach rechtsstaatlichen und humanitären Prinzipien Asylverfahren durchzuführen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Bremen: Steht das Kirchenasyl auf dem Prüfstand?
Offensichtlich ist ja die Vorstellung, Asylverfahren können nur in Deutschland und am besten in Bremen durchgeführt werden, wenn man den Anspruch erhebt, dass sie humanitären Kriterien genügen. Das halte ich für eine abwegige Vorstellung. Ich bin auch der Auffassung, dass die Institution Flüchtlingsschutz Schaden nimmt, wenn man die Spielregeln der Staaten in der Frage des Asylverfahrens infrage stellt.
Hinzu kommt ja noch, dass dieser Eingriff in das System erfolgt, bevor überhaupt von einem Asylverfahren die Rede ist – sondern es geht zunächst nur um die Zuständigkeit für ein Asylverfahren. Wenn man dann sagt: "Nein, also in Italien oder wo auch immer kann das nicht gemacht werden, das geht nur in Deutschland." Das erinnert mich sehr an diesen Satz: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen." Das halte ich für eine Art von Überheblichkeit, die völlig daneben ist.
Ist das Dublin-Verfahren noch zu retten oder müsste es ersetzt werden, weil es – wie Sie gesagt haben – dysfunktional ist?
Man hat in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vom Frühjahr dieses Jahres die Grundsätze des Dublin-Verfahrens beibehalten. Es ist einem nichts Besseres eingefallen. Es hat keine verpflichtenden Quoten gegeben, mit denen die Gesamtzahl der nach Europa kommenden Asylbewerber solidarisch verteilt werden. Es gibt keine Einigkeit innerhalb der Europäischen Union hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen.
Das Interview hat János Kereszti geführt, für die Online-Fassung hat Jean-Pierre Fellmer es aufgeschrieben und redigiert.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 14. Dezember 2024, 19:30 Uhr