Interview
Bremer Arzt über Neurodivergenz: "Viele geraten an ihre Grenzen"
Bremer Fachtag Neurodivergenz: Wie unterschiedlich Gehirne sein können
Der Oberarzt Jochen Gertjejanßen erklärt, wie Neurodivergenz und psychische Erkrankungen zusammenhängen – und welche gesellschaftlichen Änderungen nötig sind.
Neurodivergenz erlangt gerade in den sozialen Medien immer mehr Aufmerksamkeit. Creator sprechen auf TikTok und Instagram von ihren späten ADHS-Diagnosen, Problemen und Selbstzweifeln.
Laut Jochen Gertjejanßen, Oberarzt in der Allgemeinpsychiatrie im Ameos Klinikum Bremen, haben es neurodivergente Menschen in unserer Gesellschaft oft alles andere als einfach. Immer wieder treffen sie auf Hürden und Vorurteile.
Herr Gertjejanßen, was hat denn Neurodivergenz mit psychischen Erkrankungen zu tun?
Also im Wesentlichen ist es nicht schlimm neurodivergent zu sein. Wenn neurodivergente Menschen in einem Umfeld aufwachsen, wo ihre Divergenz gut funktionieren kann und sie akzeptiert ist. Das ist in unserer Gesellschaft oft nicht so, vor allem auch durch die Zunahme der Leistungsgesellschaft. Viele Menschen geraten dann irgendwann häufig an ihre Grenzen.
Daraus entwickeln sich dann psychische Begleiterkrankungen. Das beginnt bei Depressionen, Angststörungen bis zu Zwangsstörungen. Diese unangenehmen Gefühle von "irgendwas ist falsch mit mir" versuchen einige auch durch Konsum zu verarbeiten und entwickeln dann Suchterkrankungen. Das sind dann häufig auch die Erkrankungen, die Menschen zu uns in die psychiatrische Behandlung führen und gar nicht mal die Neurodivergenz an sich.
Also sind Diagnosen wie ADHS oder Autismus oft Zufallsdiagnosen?
Genau, das sind oft Zufallsfunde. Es gibt häufig Menschen auch im fortgeschrittenen Alter, also zwischen 40 und 50 Jahren, die zu uns kommen. Die hatten ihr Leben lang das Gefühl, sie stehen eigentlich neben der Gesellschaft, fühlen sich missverstanden, ausgegrenzt und werden dadurch eben depressiv. Dann bekommen sie plötzlich eine ADHS-Diagnose. Allein das Wissen darum, erleichtert häufig vielen Menschen schon das Leben. Viele dieser Menschen haben mit Schuldgefühlen und Selbstentwertung zu tun, was dann schon aus dem Elternhaus und aus der Schule kommt.
Man hört von ADHS und Autismus in den sozialen Medien ja mittlerweile immer häufiger. Haben Sie das Gefühl Neurodivergenz nimmt zu?
Möglicherweise nehmen die Zahlen zu, da es sich zum Beispiel beim ADHS und beim Autismus zum Teil um eine genetisch vererbte Besonderheit handelt. Da gibt es allerdings noch sehr wenig Forschung zu. Ich glaube eher, dass eine höhere Sensibilität da ist und die Diagnosen deshalb zunehmen.
Was für Hürden erleben neurodivergente Menschen in ihrem Alltag?
Die Haupthürde ist die zwischenmenschliche Kommunikation. Es ist für einen neurodivergenten Menschen häufig sehr schwierig Bedürfnisse anderer Menschen zu erkennen und eigene Bedürfnisse adäquat zum Ausdruck zu bringen. Am krassesten betroffen sind da Menschen im autistischen Spektrum. Das ist häufig mit extremen Anstrengungen verbunden und bringt Probleme im Alltag mit sich, wie große Missverständnisse, Ablehnung und Ausgrenzung.
Menschen mit ADHS haben zusätzlich noch damit zu tun, dass sie oft auffallen durch die Hyperaktivität und bei Kindern führt das dann oft zu Unterdrückung von Bewegungsimpulsen und Bedürfnissen. Das führt dann eben häufig zu Angstsymptomatiken und Depressionen. Fast jeder neurodivergente Mensch aus meiner Erfahrung hat in seinem Leben zu irgendeinem Zeitpunkt auch Mobbingerfahrungen gemacht.
Was müsste sich in der Gesellschaft ändern, damit Menschen mit Neurodivergenz gut darin leben können?
Ich meine das sind ja immerhin fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, die neurodivergent ist. Genau weiß man es nicht aber das ist nicht wenig. Im Allgemeinen sind das Menschen, die an einiges an Ressourcen verfügen. Häufig sind sie auch überdurchschnittlich intelligent, sind kreativ und unterscheiden sich einfach von anderen Menschen. Wir verschwenden unglaubliche Ressourcen in unserer Gesellschaft, wenn wir nicht auf diese Menschen eingehen.
Zum Beispiel wäre ein Einzelbüro dann besser als ein Großraumbüro. Vielleicht müsste ich als Chef kein Problem damit haben, wenn der Mensch mit Kopfhörern und Sonnenbrille im Büro sitzt, weil das für ihn die einzige Möglichkeit ist mit den Umgebungsreizen zu recht zu kommen. Vielleicht müssen wir Arbeitszeiten flexibler gestalten. Wir sollten die Menschen fragen, wo sie denn Unterstützung brauchen.
Es gibt auch immer wieder Kritiker, die sagen Menschen würden sich auf ihrer Diagnose ausruhen. Sie könnten ja trotzdem an Dingen arbeiten, wie zum Beispiel am "pünktlich sein". Was sagen Sie dazu?
Natürlich gibt es Methoden um auf bestimmte Dinge zu reagieren. Beim ADHS gibt es auch Medikamente, die helfen können, sich besser zu fokussieren. Auch Strukturprobleme kann man mit Psychotherapie und Ergotherapie angehen. Dieses Vorurteil impliziert aber, dass ein Großteil dieser Menschen sich diese Diagnose wünscht, um endlich eine Erklärung dafür zu kriegen, dass man eine faule Socke ist. Das glaube ich nicht.
Die Menschen, die ich sehe, haben häufig einen jahrzehntelangen Leidensweg hinter sich. Es gibt Menschen, die haben in ihrem siebten, achten Lebensjahr ihre ersten Suizidversuche unternommen und haben in der Schulzeit schwerste Mobbingerfahrungen gemacht. Den Menschen zu unterstellen, sie wollen nur eine Ausrede dafür, sich nicht konzentrieren zu können, finde ich sehr kurzgefasst und von der ganz falschen Richtung aus gedacht. Da sollte sich die Gesellschaft eher fragen, ob das Niveau, was wir von allen Menschen erwarten, funktionieren zu müssen, ob das nicht ohnehin viel zu hoch angesetzt ist. Und ob das eigentlich so auf die gesamte Gesellschaft übertragbar ist.
"Wie Schneeflocken": Psychologe erklärt, warum alle Hirne anders sind
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 15. Mai 2025, 19:30 Uhr