Fragen & Antworten

Mitbestimmung für Heimbewohner: "Bremer Konstrukt ist praxisfern"

Alte Frau im Rollstuhl auf dem Flur eines Altenpflegeheims. (Archivbild)

Mitbestimmung für Heimbewohner

Bild: Imago | Photothek/Ute Grabowsky

Heimbewohner in Bremen haben jetzt mehr Rechte. Trotzdem kritisiert der BIVA-Pflegeschutzbund Bremens neues Heimrecht scharf. Vor allem fehle es in Pflegeheimen an Kontrollen.

Wer im Land Bremen in einem Pflegeheim lebt, darf seit Jahresbeginn etwas mehr im Heim mitentscheiden als zuvor. Denn seit dem 1. Januar greift in Bremen und Bremerhaven ein neues Wohn- und Betreuungsgesetz. Es gesteht Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern nicht nur Mitwirkungs-, sondern erstmals auch ausdrücklich Mitbestimmungsrechte zu.

Trotzdem gibt es Kritik. Der BIVA-Pflegeschutzbund in Bremen hält das Gesetz in Teilen für praxisfern. Die Mitbestimmungsrechte der Heimbewohner seien unzureichend, die Heimaufsicht kontrolliere zu wenig, und der Gesetzestext sei viel zu kompliziert sowie mit viel zu vielen Verordnungen verzahnt, um in der Praxis zu bestehen. Der BIVA-Pflegeschutzbund (Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen e.V.) ist ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz in Bonn, der Interessen von Pflegebetroffenen vertritt. Das steckt hinter der BIVA-Kritik:

Was ändert sich durch das neue Bremische Wohn- und Betreuungsgesetz konkret?

Das neue Gesetz stärkt die Position von Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern gegenüber der Einrichtung, in der sie leben. Das zumindest sagt Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne). Tatsächlich steht im Bremischen Wohn- und Betreuungsgesetz bereits in Paragraph 1, unter "Ziele des Gesetzes", das Wort "Mitbestimmung". In alten Gesetzestexten war stets nur von "Mitwirkung" der Heimbewohner die Rede.

Das novellierte Gesetz regelt außerdem, dass die Sozialbehörde die Ergebnisberichte der Regelprüfungen in den Pflegeeinrichtungen künftig zeitnah und in allgemeinverständlicher Form im Internet veröffentlichen wird. Dabei geht es beispielsweise um Informationen zur Wohnqualität und baulichen Sicherheit der einzelnen Pflegeeinrichtungen wie um solche zur personellen Ausstattung, zu Unterstützungsleistungen, zur Selbstbestimmung und zu Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt.

Auch soll das Gesetz spätestens bis Ende des Jahres in leichter Sprache publiziert werden, um niedrigschwellig über die Rechte von Heimbewohnern und über die Pflichten der Einrichtungen zu informieren. Wie Bernd Schneider, Sprecher des Sozialressorts, mitteilt, bemühe sich sein Ressort darum, den Gesetzestext in leichter Sprache eventuell bereits im kommenden Sommer zu veröffentlichen.

Pflegeeinrichtungen in Bremen 2022

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Was kritisiert der BIVA-Pflegeschutzbund in Bremen an dem neuen Gesetz?

Es sei zwar ein großer Fortschritt, dass in dem neuen Gesetz nicht nur von "Mitwirkung", sondern auch von "Mitbestimmung" durch Heimbewohner die Rede sei, sagt Reinhard Leopold, Regionalbeauftragter beim BIVA-Pflegeschutzbund in Bremen sowie Gründer der Bremer Selbsthilfe-Initiative Heim-Mitwirkung. Allerdings reichten die Mitbestimmungsrechte der Heimbewohner nicht weit genug.

So dürften sie lediglich gemäß einer Rechtsverordnung aus dem Juni 2022 über eine Interessenvertretung, so etwas wie einen Beirat, über "Grundsätze der Verpflegungsplanung" mitentscheiden sowie über "die Planung und Durchführung von Veranstaltungen zur Freizeitgestaltung, die Gestaltung von Aufenthaltsräumen und Außenbereichen und die Gestaltung der Hausordnung". Dazu sagt Reinhard Leopold: "Etwas überspitzt gesagt kann man sagen: Die Heimbewohner dürfen nur darüber mitbestimmen, ob sie lieber einfarbiges oder kariertes Toilettenpapier hätten."

Der Jurist Markus Sutorius, Berater beim BIVA-Pflegeschutzbund in Bonn, weist zur Erklärung darauf hin, dass Interessenvertretungen in Pflegeeinrichtungen nach den bundesweiten Erfahrungen des BIVA nur selten etwas bewirken könnten. "Das Konstrukt ist praxisfern. Interessenvertretungen in Pflegeeinrichtungen bekommen nur dann Gewicht, wenn in ihnen Angehörige vertreten sind, die auf die Rechte der Heimbewohner pochen", so Sutorius. Die Bewohner selbst seien oft gar nicht mehr in der Lage, für ihre Interessen zu kämpfen, schon gar nicht, wenn sie an Demenz erkrankt seien.

Aufenthaltsdauer in Pflegeheimen

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Worüber müssten Heimbewohner aus Sicht des BIVA-Pflegebunds mitbestimmen dürfen?

"Über alles, was sie betrifft", sagt Leopold dazu: "beispielsweise darüber, wer sie pflegt und wofür die Investitionskosten aufgewendet werden, die jeder einzelne Heimbewohner jeden Monat entrichtet." Zu diesen Investitionskosten zählen Kosten für den Betrieb der Gebäude einer Pflegeeinrichtung, Instandhaltungskosten oder auch Mieten.

Zum Hintergrund: Im Juli 2022 zahlten die Bewohnerinnen und Bewohner Bremer Pflegeeinrichtungen laut Verband der Ersatzkassen (Vdek) durchschnittlich 537 Euro pro Monat allein an Investitionskosten. Insgesamt belief sich ihr Eigenanteil für die Heimpflege je nach Aufenthaltsdauer auf bis zu 2.100 Euro pro Monat.

Was kritisiert der BIVA-Pflegeschutzbund außerdem an dem Bremischen Wohn- und Betreuungsgesetz?

Leopold bemängelt, dass die Politik den Menschen in Bremen und Bremerhaven mit dem Gesetz Selbstverständlichkeiten als Neuigkeiten verkaufe, obgleich sie schon lang Bestand hätten. Dabei denkt er etwa an die Pflicht zur Veröffentlichung von Ergebnisberichten zu Heimprüfungen.

Er verweist in diesem Zusammenhang auf den Bericht "Qualitätstransparenz in Pflegeheimen" der Bertelsmannstiftung aus dem Januar 2022. Daraus geht hervor, dass es in Bremen bereits seit Jahren gesetzlich vorgesehen ist, Qualitätsauskünfte zu Pflegeeinrichtungen zu veröffentlichen. Dieses Vorhaben sei jedoch aufgrund datenrechtlicher Vorbehalte nicht umgesetzt worden, schreiben die Autoren des Berichts dazu.

Eigenanteil an Heimpflege nach Aufenthaltsdauer

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Um Kontrollberichte veröffentlichen zu können, muss die Heimaufsicht zunächst einmal kontrollieren. Die Kontrollen in den Heimen aber werden mit dem neuen Gesetz "angepasst", wie das Sozialressort mitteilt. So kann die Wohn- und Betreuungsaufsicht jetzt die bislang jährlichen Prüfungen für zwei Jahre aussetzen, wenn eine Einrichtung bereits von anderen Institutionen, etwa vom Medizinischen Dienst ohne wesentliche Beanstandungen geprüft worden ist. Was sagt der BIVA-Pflegeschutzbund dazu?

Diese neue Regelung hält der BIVA-Pflegeschutzbund für "katastrophal", wie Leopold sagt. Die Kontrolle der Pflege- und Versorgungssicherheit in Bremen durch die Bremische Wohn-und Betreuungsaufsicht (WBA), auch Heimaufsicht genannt, habe schon seit vielen Jahren nur schlecht funktioniert. Es mangele der WBA an den personellen Ressourcen. Selbst gesetzlich vorgeschriebenen Regelprüfungen hätten in der Praxis zu selten stattgefunden.

Aus Leopolds Sicht müsste die WBA nicht seltener, sondern öfter als bisher Bremens Pflegeeinrichtungen überprüfen – und zwar unangemeldet. Dass dies notwendig sei, ergebe sich schon aus einem Befund, den die WBA selbst in ihrem Tätigkeitsbericht 2020/2021 gestellt habe. Dort heißt es im Zusammenhang mit erheblichen Mängeln in Pflegeheimen: "Einschneidende Sparmaßnahmen in den Bereichen der Versorgungsqualität werden verstärkt von der WBA festgestellt und bemängelt." Zu den Ursachen schreibt die WBA: "Die Gewinnorientierung großer, bundes- oder europaweit agierender Träger spielt hier sicherlich eine nicht unerhebliche Rolle."

"Man müsste die WBA mit mehr Personal ausstatten, statt per Gesetz Regelprüfungen teilweise abzuschaffen", lautet Leopolds Schlussfolgerung. Dass die Regelprüfungen der Heimaufsicht schließlich durch Prüfungen durch den Medizinischen Dienst ersetzt werden könnten, sei absurd. "Der Medizinische Dienst hat ganz andere Prüfkriterien als die Heimaufsicht", sagt Leopold. So konzentriere sich der Medizinische Dienst bei seinen Prüfungen auf die Pflege- und Versorgungsqualität, habe vor allem die Ernährung, die Wundversorgung und die Körperpflege der Heimbewohner im Blick. Die WBA dagegen prüfe sachorientiert, mit Blick auf die Wohnqualität, auf Unterstützungsleistungen oder auch auf die Selbstbestimmung der Heimbewohner.

Wie Leopold, so hatten bereits vorigen März auch die Bremer Sozialforscher Heinz Rothgang, Thomas Kalwitzki und Benedikt Preuß in ihrem Evaluationsbericht zum Bremischen Wohn- und Betreuungsgesetz von "Vollzugsdefiziten bei Prüfungen" in Bremer Pflegeeinrichtungen berichtet. Auch ihr Fazit lautete: Die Wohn- und Betreuungsaufsicht müsse viel gründlicher, mit mehr Personal untersuchen, ob und inwiefern Bremens und Bremerhavens Pflegeeinrichtungen das Wohn- und Betreuungsgesetz tatsächlich befolgen.

Was sagt das Sozialressort zu dem Vorwurf des BIVA-Pflegeschutzbunds, dass die Kontrollen in den Pflegeeinrichtungen durch die Heimaufsicht unzureichend seien?

Ressort-Sprecher Bernd Schneider legt Wert auf die Feststellung, dass es neben den Regelprüfungen auch anlassbezogene Prüfungen in Bremen gebe: "Sobald es eine Beschwerde gibt über eine Einrichtung, und sei sie noch so geringfügig, geht die WBA ihr nach. Dabei wird nicht nur der eigentliche Beschwerdeanlass geprüft, sondern auch darüber hinausgehend." Bei diesen Anlassprüfungen handele es sich, zumindest mit Hinblick auf kurz- und mittelfristige Probleme, um das eigentliche Instrument zur Qualitätssicherung. "Wo es zu Problemen in Einrichtungen kommt, laufen auch Beschwerden bei uns auf", so Schneider: "Die Regelprüfungen dienen mehr der Qualitätssicherung allgemein."

Hinzu komme, dass die Heimaufsicht nicht die einzige prüfende Instanz sei. Dass der BIVA-Pflegeschutzbund die Prüfergebnisse anderer Institutionen gering schätze, könne er nicht nachvollziehen. Zumal die Heimaufsicht über die Ergebnisse durch Prüfungen anderer Institutionen wie des Medizinischen Dienstes informiert werde.
 
Schließlich führt Schneider ein wirtschaftliches Argument an: "Man muss auch aus Steuer- und Beitragszahlerzahlersicht fragen, ob eine Zwei- oder Dreifachprüfung einer Einrichtung, die ohne Beanstandungen läuft, sinnvoll und erforderlich ist." Statt dessen könnten, die Prüf-Institutionen ihre Ressourcen auf Einrichtungen konzentrieren, die Beratung und Unterstützung bräuchten.   

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Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Morgen, 9. Januar 2023, 10:40 Uhr