Interview

Schulmeider in Bremen: Wieviel Schwänzen ist normal?

Dieses Projekt verhilft Bremer Schulmeidern zum Abschluss

Bild: dpa | Zoonar/Channel Partners

In Bremen gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die oft die Schule schwänzen. Ein Bremer Erziehungswissenschaftler erklärt, wie Eltern und Umfeld damit umgehen sollten.

Christian Palentien ist Professor für "Bildung und Sozialisation" an der Universität Bremen. Als Erziehungswissenschaftler beschäftigt er sich intensiv mit den Ursachen und Folgen der Schulmeidung. Ein Phänomen, das auch in Bremen viele Schülerinnen, Schüler und ihr Umfeld betrifft.

Herr Palentien, wieviel Schwänzen ist für Schüler normal?

Studien zufolge sind rund 90 Prozent aller Schülerinnen und Schüler dem Unterricht schon einmal unentschuldigt ferngeblieben. Aus Sicht der Kinder wirkt das vielleicht unproblematisch. Aus meiner Perspektive als Erziehungswissenschaftler rate ich aber, jede Art von Fernbleiben ernst zu nehmen. Das heißt, da würde ich keine Toleranz akzeptieren wollen.

Wieso nehmen Sie es so genau?

Wenn sie sich Schulmeidung anschauen, dann findet meist eine bestimmte Dramaturgie statt. Das kann damit beginnen, dass Schülerinnen und Schüler zwar anwesend sind, psychisch aber schon nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Irgendwann kommen sie dann öfter zu spät, nehmen bestimmte Stunden nicht mehr wahr und fehlen schließlich auch mal einen halben Tag. Und so geht es weiter. Irgendwann ist es zu spät, um noch einzugreifen.

Woran merken Eltern, dass etwas nicht stimmt?

Eltern sollten zum Beispiel wahrnehmen, ob Kinder eine Unlust haben, zur Schule zu gehen. Sie versuchen dann morgens das Aufstehen zu vermeiden, täuschen Alternativaktivitäten während der eigentlichen Schulzeit vor, klagen über vermeintliche Bauch- und Kopfschmerzen.

Oftmals ist es so, dass die Schulen die Eltern kontaktieren, sobald die Kinder nicht im Unterricht auftauchen. Denn die Eltern kriegen das ja nicht unbedingt mit.

Sollten Eltern bei einem Verdacht auch aktiv die Schule kontaktieren?

Wenn sie den Eindruck haben, dass etwas nicht stimmt, können sie auch bei der Schule anrufen, nachfragen und das Gespräch suchen.

Ich würde aber natürlich immer zuerst das Gespräch mit dem Kind suchen. Zumindest für den Fall, dass die Eltern nicht selbst Teil der Ursache der Schulmeidung sind. Denn es kann ja auch an fehlenden Vorbildern scheitern, die selbst keine Struktur vorgeben.

Leere Schulbänke, auf die Sonne fällt.
Wenn Kinder es meiden zur Schule zu gehen, kann das viele Ursachen haben. Bild: dpa | Zoonar/Nerijus Liobe

Gehen wir mal davon aus, dass die Eltern nicht Teil des Problems sind. Wo können dann die Ursachen für Schulmeidung liegen?

Es kann verschiedene Gründe geben. Das reicht von Schulangst bis zu Schulphobien. Zum Beispiel kann es die Situation geben, dass Kinder in der Schule gemobbt werden, dass sie mit den Unterrichtsstoff nicht klarkommen, vielleicht auch mit bestimmten Lehrkräften, und so weiter.

Auch der Einfluss von Freundinnen und Freunden ist groß. Es gibt Studien, die analysieren, welchen Einfluss es hat, wenn im Freundeskreis andere Schülerinnen und Schüler selbst die Schule vermeiden. Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass Kinder und Jugendliche mit so einem Freundeskreis irgendwann auch nicht mehr hingehen. Es strahlt also aus.

Für den Fall, dass Eltern oder Freunde als Korrektiv wegfallen. Wer bleibt dann noch?

Das kommt sehr darauf an, wie alt das Kind ist. Aber wenn ich beispielsweise als Übungsleiter im Sportverein den Eindruck habe, da geht ein Jugendlicher nicht regelmäßig zur Schule und die Eltern interessiert es nicht, dann würde ich erstmal versuchen, mit den Jugendlichen direkt zu reden. Und dann muss überlegt werden, welche Hilfsmöglichkeiten bestehen.

Eine Grundschülerin sitzt alleine vor der Schule.
Schulangst oder Schulphobien müssen früh erkannt werden, damit Schülerinnen und Schüler nicht in einen Schulmeidungs-Kreislauf geraten. (Symbolbild) Bild: dpa | Wavebreak Media LTD

Wo gibt es Hilfen?

Es gibt hier in Bremen ein gutes Netz von Unterstützungssystemen. Das reicht von Erziehungsberatungsstellen bis hin zum Jugendamt. Diese Institutionen nehmen eine Wächterfunktion ein. Sie schauen drauf, was macht das Kind, was macht der Jugendliche? Dabei müssen sie nicht sofort tätig werden. Sie werden zunächst versuchen, die Eltern mit an Bord zu nehmen. Auch die Lehrerschaft oder die Schülervertretung können für bestimmte Probleme Ansprechpartner sein.

Was passiert, wenn das nicht reicht?

In Bremen wird den Schulleitungen empfohlen, schon nach dem vierten oder fünften Tag des Fernbleibens aktiv zu werden. Da sprechen wir dann davon, dass Klassen- oder Elternkonferenzen einberufen werden. Das Problem wird so auf eine andere Ebene gehoben. Notfalls braucht man andere Maßnahmen, die auch schulersetzend sind.

Bremen setzt dabei auf Schulmeider-Programme wie die Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren, sogenannte Rebuz. Dort werden Kinder außerschulisch und individuell betreut. Die Bremer CDU hingegen fordert höhere Geldbußen für Eltern, wenn die Schulpflicht nicht eingehalten wird. Was ist der bessere Weg?

Ich will den Vorstoß der CDU nicht ganz verdammen. Wenn Sie Eltern haben, denen Erziehung egal ist, die ihre Vorbildfunktion als gering erachten, die keine Struktur an den Tag legen, denen ihre Kinder mehr oder weniger egal sind, dann kann es ein Weg sein, über das Ordnungsamt und über den Geldbeutel zu gehen.

Aber ich glaube, das funktioniert in den wenigsten Fällen. Denn hinter der Schulmeidung stehen immer Ursachen, eine Geschichte, die nicht mit Bußgeldern in den Griff zu kriegen ist. Darum muss man sich inhaltlich kümmern.

Welche Weichen sollte die Politik also aus Ihrer Sicht stellen?

Wenn wir über Schule sprechen, dann reden wir immer über Schulleistungen, über Inhalte, über Deutsch, Mathematik. Wir reden über Mindeststandards und so weiter. Das sind auch alles wichtige Themen. Aber wir ignorieren ein Stück weit, dass Schulen auch Sozialräume und Kinder soziale Wesen sind. Das bedeutet, ich muss diesen Faktor Soziales genauso ernst nehmen wie den Faktor Leistungen.

Das heißt, wenn Kinder zu spät kommen, brauche ich dafür eine Struktur. Es muss auffallen, Kinder und Jugendliche müssen Ansprechpartner haben, die sie vielleicht sogar zu Hause besuchen, die auch mit den Eltern ins Gespräch kommen. Solche sozialen Netzwerke müssen wir schaffen.

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Bild: Radio Bremen

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 15. Dezember 2024, 19:30 Uhr