Syrien ohne Assad: Bremer Journalistin erlebt das Land im Wandel
Syrien ohne Assad: Bremer Journalistin erlebt das Land im Wandel
Vor etwa drei Monaten ist das Assad-Regime in Syrien gefallen. Reporterin Serena Bilanceri war anderthalb Monate dort unterwegs. Das hat sie erlebt.
Viele Menschen haben am 8. Dezember 2024 gezittert. Einige vor Angst. Andere vor Ungeduld. Um 6:18 Uhr syrischer Zeit, 4:18 Uhr in Deutschland, klingelt in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen das Handy von Diaa Sabsabi, eine Nachricht ploppt auf dem Display auf: Syrien ist frei. Für ihn ist klar: Er will nach Hause – nach Homs.
Zum selben Zeitpunkt, in einer Kaserne mitten in der syrischen Wüste, sitzt der Soldat G. T. auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens, um ihn herum Dutzende weiterer Soldaten, und wartet auf das Signal für die Abfahrt. T. will nicht erkannt werden, deshalb wird sein Name abgekürzt. Seine Waffe hat er im Zimmer zurückgelassen, nur das Nötigste mitgenommen. Dabei hat er eine Tüte trockene Asia-Nudeln, ein Handy mit leerem Akku – und Panik.
Autoritäres Regime fällt
Kurz zuvor waren Hunderte Männer mit Maschinengewehren, oft in Camouflage und mit langen Bärten, auf Motorrädern, Wagen und Pickups in die Hauptstadt Damaskus einmarschiert. Kämpfer, meistens von Rebellengruppen aus dem Norden, die bis dahin als Terroristen galten.

Nahezu widerstandslos zwangen sie den ehemaligen Präsidenten Baschar al-Assad zur Flucht nach Russland. Dutzende Menschen strömten auf die Straßen, zerrissen Plakate mit dem Gesicht Assads, zertrümmerte die Büsten. Symbole eines autoritären Regimes, das sich mehr als ein halbes Jahrhundert hinzog.
Für den Sunniten Sabsabi bedeuten diese Szenen das Ende eines Albtraums. Er beginnt zu hoffen. Für den alawitischen Soldaten T. hingegen ist es der Anfang einer bis dahin unbekannten Angst. Und eine Flucht quer durch die Wüste in Richtung Zuhause.
Bremer Journalistin reist durchs Land
T. und Sabsabi sind nur zwei der vielen Syrer und Syrerinnen, die ich auf meiner Reise in ihrem Land getroffen habe. Sunniten, Alawiten, Christen, Drusen. In anderthalb Monaten konnte ich die Freude der einen spüren, die sich gegen den Autokraten Assad erhoben hatten und lange um ihr Leben fürchten mussten. Ich spürte aber auch die Unsicherheit derer, die als Schützlinge Assads galten. Die Alawiten, zu denen er angehörte, aber auch die Christen, Drusen und andere Minderheiten, für die sich Assad als Beschützer inszeniert hatte.
Alawiten sind in Sorge

Die Alawiten sind die Minderheit, die derzeit am unruhigsten sind. Um mit ihnen zu reden, fuhr ich zuerst in die Hafenstadt Tartus. Hier traf ich auf T., der anonym bleiben möchte, mir aber seine Lebensgeschichte erzählte – vom Drogendealer unter Assad, als der Stoff billig zu kriegen war, hin zum widerwilligen Soldaten, als ihm die Polizei auf die Schliche kommt und ihn zwangseinberuft, sowie Musikproduzenten dank großzügiger Bestechung seiner Vorgesetzten. Und dann nahm ich einen Bus nach Homs.
Dort angekommen traf ich Familie Sabsabi, die samt Baby, älterer Tochter und Großmutter nach Hause fuhr. Wir plauderten kurz über die Lage in Syrien, über den Wunsch des 29-jährigen Mannes, die Familie nach 13 Jahren wiederzusehen.
Ich bin als Kind gegangen und mit Kind zurückgekommen.
Diaa Sabsabi, Flüchtling auf dem Weg nach Homs
Wenige Sitzplätze weiter fuhren zwei Kämpfer mit Maschinengewehren auf dem Schoß mit – sie waren freundlich zu uns, während der Bus in die Dunkelheit fuhr.
Flüchtlingslager erinnert an Gaza
Als ich in Homs war, glich das Alawitenviertel bei Nacht einer Geisterstadt. Kein Strom, die Häuser wie verlassen, die Straßen menschenleer. Checkpoints säumten den Weg. Die Menschen dort hatten Angst, erzählten von Schikanen und Selbstjustiz, eine NGO bestätigt mehrere Fälle von Gewalt und Exekutionen.

Das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk erinnert dagegen an vielen Stellen stark an Gaza: ausgeweidete Häuser, Trümmer am Straßenrand. Ich traf dort auf einen Menschen, der sich zur Hamas bekannte und beim Wiederaufbau helfen wollte, auf eine Familie, deren Sohn gerade im Südlibanon gestorben war. Auf Menschen, die nicht mehr zurück ins Camp wollen und andere, die noch nie weggegangen sind.
Familien suchen immer noch nach vermissten Angehörigen
Es gab berührende Momente, schöne, aber auch sehr traurige. Etwa im Gefängnis Sednaya, wo viele politische Gefangene Assads gefoltert und hingerichtet wurden. Vor seinen Toren standen Mütter, die verzweifelt nach ihren verschollenen Kindern gesucht haben, obwohl diese schon längst nicht mehr da waren. Sednaya ist ein Schreckensort: winzige, ranzige Zellen, Käfige, angebliche Folterinstrumente, Verwesungsgeruch. Die verstümmelten Leichen in der Leichenhalle der Krankenhäuser, zu denen Familien auf der Suche nach ihren Liebsten pilgerten.
Eine Frau weinte, weil sie sich nicht sicher war, ob das wirklich ihr Sohn war oder jemand anderes. Diese Bilder kriegt man schlecht aus dem Kopf. Oder das Massengrab mit dem Mann, der die Überreste seines Vaters suchte und mit nackten Händen Plastiktüten mit menschlichen Knochen ausgegraben hat. Diese Verzweiflung in den Augen der Menschen, die bleibt hängen.
Lage für Journalistin aus Europa privilegiert
Für mich war diese Lage ebenfalls mit Unsicherheiten verbunden. Als ich kurz vor Weihnachten mit Freunden in einer Tanzbar in Damaskus feierte, erschien draußen ein aufgeregter Kämpfer mit Kalaschnikow. Kurz darauf kamen zwei junge Männer rein, die wie Milizionäre aussahen. Ich tanzte gerade mit einem Gin-Tonic in der Hand. Instinktiv grüßte ich sie auf Englisch und lud sie zum Tanzen ein. Einer tat es kurz, ganz rot im Gesicht, dann tauschten sie sich aus und verschwanden.
Feiern und zittern, ein Leitmotiv, Freude und Sorge. Die neuen Machthaber haben zwar mehrfach versichert, die Minderheiten seien sicher und zivile Freiheiten garantiert. Doch nicht jeder ist davon überzeugt – und die Unsicherheit bleibt.

Manche Frauen sind ebenfalls besorgt, wie es jetzt für sie weitergehen wird. Für mich als westliche Journalistin war die Lage sehr ambivalent: Einerseits fühlt man sich als europäische Ausländerin ziemlich privilegiert. Alle sind bemüht, das Land als tolerant, gastfreundlich und pluralistisch zu zeigen. Die dunklen Straßen können in der Nacht einschüchtern, waren aber als Frau, allein, stets sicher.
Hoffnung und Sorge für die Zukunft
Gleichzeitig balancierte ich oft an Gefahren und Tragödien vorbei: Ich stand in der Nähe der Umayyad-Moschee, als die tödliche Massenpanik ausbrach, sollte zum schiitischen Schrein am Tag des geplanten IS-Anschlags sowie in einem Hotel übernachten, wo eine bewaffnete Razzia stattfand. Und ging in letzter Minute doch nicht zu einer Demo vor der palästinensischen Botschaft, bei der Journalisten kurzzeitig festgenommen wurden.
So wie die Menschen dort litten wir zudem unter dem Strom-, Gas-, Heizungs- und sauberen Wassermangel. Oder an den Magen-Darm-Erkrankungen, die durch fehlende Infrastruktur und kontaminierte Lebensmittel grassieren. Und doch will ich bald wieder hin, denn so schwierig diese Arbeit auch ist: Sie ist in der heutigen, globalisierten Zeit wichtiger denn je.

Im Augenblick wird in Syrien vor allem diskutiert, wie und wer das Land wieder aufbauen kann. Ob westliche Länder ihre Sanktionen aufheben – und wer künftig das Land regieren soll. Einen Plan für die Zukunft soll her, der Frieden bringt und die Unsicherheit wie eine Seifenblase platzen lässt. Und Menschen wie T. und Sabsabi, beiden so unterschiedlich ihre Lebenslagen und Geschichten auch sind, eine sichere Zukunft bieten kann.
Sturz von syrischem Machthaber: "Türkische Unterstützung hat gefruchtet"
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Vormittag, 18. Februar 2025, 12:38 Uhr