Kinder des Krieges: Wie sie der Zweite Weltkrieg bis heute verfolgt

Bild: Radio Bremen

Vor 75 Jahren waren sie Teenager: Eine Bremerhavenerin und eine Delmenhorsterin sprechen jetzt in einer großen ARD-Dokumentation über ihre traumatische Kindheit.

Lydia Bohling ist 89 Jahre alt. 1945 lebte sie mit ihrer Mutter und ihren zwei Geschwistern in Bremerhaven. Der Vater war an der Ostfront – die Familie auf sich allein gestellt.

Altes Familienfoto einer Familie mit drei Kindern
Lydia Bohlings Familie – ihr Vater war an der Ostfront stationiert. Bild: aus ARD "Kinder des Krieges"

Überzeugte Nationalsozialisten seien sie gewesen, sagt Lydia Bohling heute: "Als ich 14 war, hätten Sie mich für ein 120-prozentiges Hitlermädel gehalten." Sie wuchs im Dritten Reich auf – mit der Propaganda der Nationalsozialisten und glaubte ihnen. Deren Weltbild war ihr Weltbild.

Fester Kinderglaube in der NS-Zeit

Als sich Anfang 1945 abzeichnete, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, brach für das überzeugte Hitlermädel eine Welt zusammen. "Ich habe eine Tante und ich hörte sie durch die angelehnte Tür sagen: Ja, der Krieg ist verloren.", erinnert sich die Bremerhavenerin. "Ich hatte wahnsinnig viel Respekt, das war eine richtige resolute Tante. Aber da hörte der Respekt auf! Da bin ich reingestürmt und habe sie zur Rede gestellt. Da habe ich zu ihr gesagt, ob sie sich nicht schämen würde. Sie hätte zwei Söhne an der Front, die für ihr Vaterland und Führer kämpfen. Ich war kurz davor, sie anzuzeigen."

Altes Foto einer Frau mit Zöpfen
Lydia Bohling in ihrer Jugend zur NS-Zeit. Bild: aus ARD "Kinder des Krieges"

"So wie Lydia Bohling ging es vielen deutschen Kindern bei Kriegsende", weiß der Bremer Historiker Christopher Spatz. "Sie erlebten den Zusammenbruch des Deutschen Reiches, in dem sie aufgewachsen waren, und das Wegbrechen ihrer Werte und Normen, die sie für richtig hielten. Sie spürten die Ängste ihrer Eltern, sahen die Machtlosigkeit und die Demütigung, die sie als Verlierer des Krieges über sich ergehen lassen mussten. Das hat bei den Kindern tiefe Spuren hinterlassen."

Christopher Spatz forscht seit Jahren über Kriegstraumata, und wie sich diese von Genration zu Generation weitergeben. "In vielen Familien wurde nach dem Krieg geschwiegen. Das Erlebte wurde oft nicht aufgearbeitet und unter den Teppich gekehrt. Der Blick ging nach vorn in Richtung Zukunft." Vor allem das, was die Kinder im Krieg erlebt und gesehen haben, wurde von den Erwachsenen nicht ernst genommen. "Die kindlichen Erinnerungen hatten damals keine Bedeutung", so Spatz. "Es wurde gesagt: 'Ihr habt doch gar nichts mitbekommen.' Das stimmt natürlich nicht. Die Kinder haben sehr wohl was mitbekommen."

Jahrelang, oft sogar jahrzehntelang schwiegen deswegen viele Kinder des Krieges. Sie trauten sich nicht, über ihr Erlebtes zu reden und hatten auch niemanden, mit dem sie reden konnten. Oft schämen sie sich bis heute, dass sie Teil des nationalsozialistischen Deutschlands waren und ihre Familien zum Teil systemtreu lebten – so wie bei Lydia Bohling.

Angstbesetzte Eltern am Kriegsende

Als im Frühling 1945 klar war, dass die Besatzungsmächte nach Bremerhaven kommen würden, mussten die überzeugten Nationalsozialisten alle Beweise ihrer Gesinnung vernichten. "Kurz bevor die Amerikaner kamen, haben meine Mutter und ich die Uniformweste, ein Hitlerrelief und sämtliche Bilder, die irgendwas mit Nationalsozialismus zu tun hatten, auf unserer Parzelle vergraben. Wirklich bei Sturm und Wind", erinnert sich die heute 89-Jährige.

Meine Eltern haben gesagt: Vielleicht lassen uns die Feinde dann leben, wenn die nichts finden, was an Nationalsozialisten erinnert.

Weißhaarige Dame vor schwarzem Hintergrund
Lydia Bohling (1945 war sie 14 Jahre alt)

Am 20. April 1945 marschierten britische Truppen in Delmenhorst ein. Für die Stadt und ihre rund 40.000 Einwohner war der Krieg vorbei. Eine von ihnen war die damals 17-jährige Elfie Walther. Sie lebte mit ihrer Familie auf einem Bauernhof, als Ende April plötzlich ein Jeep der British Army auf ihren Hof fuhr. Die Briten hatten einen Stellungsbefehl dabei. "Ihre Tochter muss sich morgen früh um sieben oder acht Uhr am Rathaus stellen", erinnert sich die 92-Jährige. "Es ist mitzubringen für eine Woche Wäsche und Essen." Ihre Eltern seien damals ganz ruhig gewesen.

Meine Mutter sagte: Du wirst jetzt als Fremdarbeiterin geschickt, so wie wir eine Polin hatten. Damit musst du fertig werden.

Ältere Dame mit rötlichem Haar vor schwarzem Hintergrund frontal
Elfie Walther (1945 war sie 17 Jahre alt)

Am 1. Mai fuhr die britische Armee insgesamt 100 Mädchen aus Delmenhorst ins Kriegsgefangenenlager Sandbostel. Die Engländer hatten das Lager erst zwei Tage vorher, am 29. April 1945, befreit und entschieden, sofort zu handeln. Denn die 14.000 Kriegsgefangenen und 7.000 KZ-Häftlinge waren zum Großteil in so einem schlechten gesundheitlichen Zustand, dass medizinische Hilfe und Pflege dringend nötig war. Und die sollten dienstverpflichtete deutsche Mädchen und Frauen übernehmen. Sie sollten die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes mit eigenen Augen sehen.

Teils verfallene Holzhütten vor bewölktem Himmel
Das ehemalige Kriegsgefangenen-Lager Sandbostel bei Gnarrenburg ist heute eine Gedenkstätte. Bild: aus ARD "Kinder des Krieges"

"Dann mussten wir den Häftlingen erst mal die Sträflingskleider ausziehen, oft saßen die fest drin, waren eingewachsen", erinnert sich Elfie Walther. "Dann wurden sie entlaust. Die Häftlinge waren so schwach, die konnten kaum bis zu den Latrinen kommen. Dann starben die ersten. Und dann standen die Engländer da und haben, was ich auch verstehen kann, gedacht: 'Jetzt werdet ihr mal bestraft für das, was ihr angerichtet habt.'"

Erinnerungen können ein Leben lang traumatisieren

Trotz aller Hilfsbemühungen starben in den ersten Wochen nach der Befreiung Sandbostels 500 Häftlinge. Es sind Bilder, die Elfie Walther niemals vergessen wird. Es sind Erinnerungen, die sie und andere Kinder und Jugendliche von damals traumatisiert haben, weiß Historiker Spatz: "Der Krieg hat vielen die Kindheit genommen."

Das sind Sachen, die einen fürs Leben prägen.

Christopher Spatz, Bremer Historiker

Die Kindheit und Teenagerzeit dieser Generation war alles andere als wohlbehütet: "Die Kriegskinder mussten schneller erwachsen werden. Schon Jugendliche wurden zu Aufräumarbeiten gerufen. Sprich: Sie mussten nach Bombenangriffen Leichenteile wegräumen."

Lange durften diese Kinder nicht darüber sprechen. Denn im Gegensatz zu Siegermächten wie Frankreich oder Russland, in denen die Kriegsgeneration schon immer über das Erlebte sprechen konnte, war dies im besiegten Deutschland kaum möglich. Die Generation der Über-80-Jährigen kämpft bis heute mit der Scham – der Scham des verlorenen Krieges und der Gräueltaten in der Hitlerzeit.

Auch Elfie Walther schämt sich bis heute. Sie schämt sich dafür, dass sie so dumm war und die Uniform des Bundes deutscher Mädel trug. Doch nun – nach 75 Jahren – trauen sie und viele Zeitzeugen sich darüber zu sprechen. Herausgekommen ist eine einzigartige Dokumentation über Kriegskinder aus ganz Deutschland, die zum Teil zum ersten Mal vor einer Kamera erzählen: über ihre Zeit als Kindersoldaten, ihre Zeit im Konzentrationslager, ihre Zeit unter russischer Besatzung.

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Autorin

  • Autorin
    Anna Pajak

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Die Chronik, 26. April 2020, 7:50 Uhr

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