Interview

Gedenken an die Nazi-Opfer: Wie Ost-Europa unter Deutschland litt

So gedenkt Bremen der Opfer des Nationalsozialismus

Bild: dpa | akg-images

Vor 78 Jahren befreiten sowjetische Truppen das KZ Auschwitz. Eine Historikern machte bei der Gedenkfeier in Bremen deutlich: "Erinnerungskultur braucht eine Osterweiterung."

Bis zu 1,5 Millionen Menschen ermordeten die Nazis allein in ihrem größten Konzentrationslager, im KZ Auschwitz. Der Tag der Befreiung dieses Lagers durch die Rote Armee, dem Heer der damaligen Sowjetunion, ist der 27. Januar. Seit 1996 ist dieser Tag bundesweit ein gesetzlich verankerter Gedenktag: "Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus".

In Bremen hat die zentrale Gedenkveranstaltung hierzu am Donnerstag im Rathaus stattgefunden. Auf Einladung des Bremer Senats und der Landeszentrale für politische Bildung hat dabei die Historikerin Katja Makhotina von der Universität Bonn den Fokus auf die Verbrechen der Nazis und der Wehrmacht im Osten Europas gerichtet.

Denn hierüber wissen die Deutschen zu wenig, sagt die Wissenschaftlerin. "Erinnerung, die weh tut. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-45 als Leerstelle im öffentlichen Gedächtnis und als Weckruf“ lautet der Titel ihres Vortrags. Buten un binnen hat mit Makhotina bereits vor ihrem Vortrag im Rathaus über den Krieg der Deutschen im Osten gesprochen – und auch darüber, was Bremer tun könnten, um Bremens NS-Vergangenheit aufzuarbeiten.

Sie kritisieren in Ihrer Rede an der deutschen Gesellschaft, dass diese erst vor etwa 30 Jahren begonnen habe, Empathie gegenüber Kriegsopfern zu entwickeln. Was hat sich damals konkret verändert?

Bis dahin wollte man den Opfern nicht zuhören. Nicht nur in Deutschland, sondern überall. Das hat sich geändert, weil sich die Menschen weltweit in den Neunzigerjahren verstärkt den eigenen schmerzhaften und tragischen Geschichten zugewendet haben sowie den leidvollen Geschichten ihrer Nationen. Dazu brauchte man die Erzählungen des Leids und damit die der Opfer. Das betraf aber eben nicht nur Deutschland, sondern beispielsweise die Vereinigten Staaten, Lateinamerika oder die Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Sie sagen auch, dass die Erinnerung an das Leid von damals immer noch wehtut. Weshalb ist es trotzdem so wichtig, dass wir uns daran erinnern?

Es ist wichtig, weil es die menschliche Natur offenbart. Man hat sich viel zu lange und zu bequem auf der "Nie wieder"-Floskel ausgeruht. Damit haben wir die Überlebenden enttäuscht. Wir haben zwar immer wieder gesagt: "Es darf nie wieder zu einem Krieg kommen." Aber jetzt haben wir einen Krieg mitten in Europa. An den gleichen Orten, die mit Leidensgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind.

Lange haben wir behauptet, dass wir moralisch zu besseren Menschen geworden sind. Doch jetzt sieht man: Das ist nicht der Fall. Wir haben uns nur etwas vorgemacht.

Katja Makhotina

Die Erinnerung an den Holocaust tut nicht nur den Opfern weh, sondern auch den Tätern. Auch deshalb ist es wichtig, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Wir haben den Menschen in der Ukraine, in Belarus, in Russland und im Baltikum unglaublich viel Leid angetan. Und wir wissen zu wenig darüber. Das Wissen ist aber wichtig, damit wir uns angemessen verhalten können. Daher besteht der erste wichtige Schritt für uns darin, unser Wissen zu mehren. Dazu brauchen wir die Erinnerung.

Ukrainische Flüchtlinge kommen im März 202 am Berliner Hauptbahnhof an (Archivbild)
Ukrainische Geflüchtete kommen im März 2022 am Berliner Hauptbahnhof an: Bilder, die Erinnerungen an die Flüchtlingsströme im Zweiten Weltkrieg wachrufen. Bild: dpa | Vladimir Menck/sulupress.de

Was ist aus ihrer Sicht der zweite wichtige Schritt zur Aufarbeitung unserer Geschichte?

Der zweite Schritt ist, sich einzugestehen: "Meine Eltern, meine Großeltern haben die Augen zugedrückt. Sie haben sich selbst als Opfer dargestellt." Zum anderen müssen wir uns klarmachen: Die Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit den Zeugnissen aus dem jetzigen Krieg in Europa. Das betrifft auch die Geschichten von der Wut auf die Täter, also die russischen Angreifer. Oder die Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges. 

Aber wir Deutsche sind doch gar nicht direkt in den Krieg Russlands gegen die Ukraine involviert…

Das ist richtig. Aber auch die Deutschen stehen vor der Frage: Wie beziehen wir uns auf den Krieg? Mit Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen, die jetzt leiden? Oder, indem wir uns als Deutsche selbst entlasten, indem wir sagen: "Okay, jetzt sind die Anderen böse. Wir haben doch immer gewusst, dass die Russen böse sind!" 

Es gibt bei uns noch immer eine ausgeprägte Russifizierung des Feindes. Dabei sollten wir gelernt haben, dass derartige Feindbilder nur Unheil bringen. Sie sind in ihrer Schlichtheit nicht nur falsch, sondern sie können auch dazu dienen, durch krude Analogien unsere eigene Geschichte zu verharmlosen. Und genau hierin besteht gerade die deutsche Herausforderung: darin, genau hinzuschauen, nicht gleichgültig zu bleiben – und nicht darin, die eigene Verantwortung für den Holocaust und den Vernichtungskrieg im Osten zu relativieren. 

Dunkelhaarige Frau mit Sommersprossen, um die 40, blickt in Kamera
Fordert, dass sich die Deutschen intensiv mit den sowjetischen Gräbern aus der NS-Zeit auseinandersetzen sollen: Katja Makhotina. Bild: Katja Makhotina

Was müssen die Deutschen aus Ihrer Sicht außerdem tun, um verantwortungsvoll mit dem Krieg umzugehen?

Sie müssen erst einmal aufmerksam und mit Interesse das Schicksal der Opfer verfolgen. Aber ich fürchte: Wenn der Krieg zu Ende sein wird, wird unser Bezug zu den Menschen im Osten wieder die alten kolonialistischen Züge annehmen. Die Menschen aus dem Osten werden weiterhin die Arbeitssklaven sein, die wir hier für niedrige Löhne ausbeuten. Stichwort: Spargelernte. Oder Pflegekräfte. Oft wissen wir noch nicht einmal, was für Menschen das genau sind. Sind das Menschen aus Kasachstan, aus Polen, aus der Ukraine oder aus Belarus, die da billig für uns arbeiten? Es sind für uns irgendwie einfach alle Russen. Wir bringen diesen Menschen wenig Interesse entgegen. Und dann wird den traumatisierten Geflüchteten auch noch der Opfer-Status abgesprochen. Das ist auch eine Folge der Gleichgültigkeit, mit denen ihnen die Gesellschaft und auch manche deutsche Journalisten begegnen.

Dabei müssten wir aus dem Zweiten Weltkrieg auch gelernt haben: Der Osten ist nicht gleich Russland. Es gibt viele verschiedene Menschen, die unter der sowjetischen Herrschaft gelitten haben. Wir müssen mit diesen Menschen über ihre Erfahrungen sprechen, denn unsere Erinnerungskultur in Deutschland braucht dringend eine Osterweiterung.

In Ihrem Vortrag führen Sie aus, dass den sowjetischen Kriegsfriedhöfen in den deutschen Großstädten bei dieser "Osterweiterung der Erinnerungskultur" eine wichtige Rolle zufallen könnte. Sie nennen diese Orte "Leerstellen vor der Haustür". Bitte erklären Sie, wie Sie das meinen.

Ich meine damit, dass man gar nicht bis nach Auschwitz reisen muss, um etwas über den deutschen Vernichtungskrieg im Osten und über seine Auswirkungen zu erfahren. Es gibt in jeder deutschen Großstadt, am Rande der Stadt, einen Friedhof aus sowjetischen Gräbern. Leider werden diese Gräber noch immer oft pauschal als "Russengräber" bezeichnet. Dabei liegen dort häufig vorwiegend Menschen aus der Ukraine, die in Deutschland als Zwangsarbeiter beschäftigt waren, oftmals junge Frauen, die hierher verschleppt und ausgebeutet worden waren. Sie sind hier als Arbeitssklaven im Bombenregen gestorben, oft, weil man ihnen den Zugang zu Luftschutzkellern verwehrte. 

Wie sollten wir Ihrer Meinung nach mit den sowjetischen Kriegsfriedhöfen in unseren Großstädten umgehen?

Wir sollten sie aufsuchen und uns genau darüber informieren, wer dort liegt. Wir sollten ihre Schicksale aufarbeiten und darüber informieren, was das für Menschen waren und was ihnen angetan worden ist, was ihnen unsere lokale Gemeinschaft angetan hat. Es gab kaum eine Firma, die keine Zwangsarbeiter beschäftigt hatte. Das muss veröffentlicht werden. Auch die eigene Familiengeschichte muss offengelegt werden. Ich weiß, dass das wehtut. Aber das ist der erste Schritt. Wir müssen auch die Jugend zu diesen Friedhöfen mitnehmen. Und wir müssen darüber im Schulunterricht informieren.

Autor

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 26. Januar 2022, 19.30 Uhr